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Internationale Paneuropa-Union

Coudenhove-Kalergi und Kant

In der von der Europagesellschaft Coudenhove-Kalergi herausgegebenen Reihe Europäische Briefe wurde anlässlich des 130. Geburtstags des Gründers der Paneuropa-Union sowie des 300. Geburtsjahrs des Philosophen Immanuel Kant der Text mit dem Titel Richard Coudenhove-Kalergi – Philosophischer Nachfolger von Immanuel Kant veröffentlicht. Autor des Beitrags ist Generalsekretär Pavo Barišić.

EUROPÄISCHER BRIEF DER EG-CK – EUROPA-GESELLSCHAFT COUDENHOVE-KALERGI

Richard Coudenhove-Kalergi – Philosophischer Nachfolger Immanuel Kants

Am 17. November 2024 jährte sich der 130. Geburtstag von Richard Coudenhove-Kalergi, dem in Tokio geborenen Gründer der Paneuropa-Union und einem der Gründungsväter des vereinten Europas. Im gleichen Jahr wird weltweit das große Jubiläum, der 300. Geburtstag von Immanuel Kant gefeiert, einem der bekanntesten europäischen Philosophen, der in Königsberg geboren wurde. Zwischen diesen beiden „Vätern Europas“ besteht eine tiefere geistige Verbindung, auf die ich in dieser Würdigung hinweisen möchte. Richard Coudenhove-Kalergi kann als philosophischer Nachfolger des Denkers beschrieben werden, der auf dem Kategorischen Imperativ eine großartige Philosophie des Friedens und eines Weltbundes der Völker entwickelte.

Es ist allgemein bekannt und wird gelegentlich erwähnt, dass Kant auf dem ersten Paneuropa-Kongress, der vom 3. bis 6. Oktober 1926 in Wien stattfand, einen ehrenvollen Platz unter den Gründungsvätern einnahm, denen herausragende Verdienste um das geistige Kulturerbe Europas zugeschrieben werden. In seinem Buch Ein Leben für Europa schilderte Coudenhove-Kalergi mit besonderem Stolz, wie das Gemälde Kants den Hintergrund des riesigen Marmorsaals im Wiener Konzerthaus schmückte.

Weniger erforscht und bekannt ist jedoch, inwieweit Richard Coudenhove-Kalergi seine paneuropäische Mission unter dem Einfluss des philosophischen Erbes Kants entwickelte. Der Einfluss Kants auf seinen friedensdenkenden Nachfolger ist dabei signifikant. Führende Befürworter der Vereinigung europäischer Staaten, wie der damalige französische Ministerpräsident und Außenminister Edouard Herriot, wiesen bereits in den 1920er Jahren darauf hin. Mittlerweile ist dieses Wissen jedoch weitgehend in Vergessenheit geraten.

Auf seiner ersten Reise nach Paris, die er als Metropole Europas bezeichnete, besuchte der Gründer der Paneuropa-Union im Januar 1925 den „führenden Mann Frankreichs“. Edouard Herriot war der erste europäische Staatsmann an der Spitze einer Regierung, der sich ausdrücklich für die Vereinigten Staaten von Europa einsetzte. Darüber hinaus veröffentlichte der französische Staatschef 1930 ein Buch über Europa, das im selben Jahr in Leipzig unter dem Titel Vereinigte Staaten von Europa auf Deutsch und in London in der englischen Übersetzung The United States of Europe erschien. In diesem Werk wurde Richard Coudenhove-Kalergi als geistiger Nachfolger von Immanuel Kant ausdrücklich anerkannt und hochgelobt.

Der führende Staatsmann Frankreichs beschrieb den damaligen Zustand intellektueller Kreise Europas als eine Anstrengung der besten Köpfe der jüngeren Generation, die sich der Aufgabe verschrieben hatten, die herausragende Friedenslehre Immanuel Kants in die Praxis umzusetzen. Für den Urheber der paneuropäischen Mission fand er folgende lobenden Worte:

„Das Verdienst, an der Spitze dieser geistigen Gruppen zu stehen, gebührt dem Mann, der in den letzten Jahren am ausschließlichsten seine Persönlichkeit im Kampf für die europäische Föderation einsetzte, dem Grafen Richard N. Coudenhove-Kalergi. Graf Coudenhove entwickelte seine Ideen in einer Reihe von Arbeiten, die für den paneuropäischen Mitarbeiter heute das beste Handbuch bilden; man kann seine Genauigkeit und seine Klarheit nicht genug loben.“ (Richard N. Coudenhove-Kalergi, Ein Leben für Europa. Die Autobiographie, Paneuropa-Verlag, Augsburg 2019, S. 376)

Kein geringerer als der angesehene Präsident der französischen Regierung erklärte Coudenhove-Kalergi zum Anführer der jüngeren Generation, die danach strebt, Kants Philosophie des ewigen Friedens und der Vereinigung der europäischen Völker von Ideen in die Tat umzusetzen. Und er hat es gut erraten. Tatsächlich lässt sich sowohl im philosophischen als auch im politischen Werk von Coudenhove-Kalergi eine gedankliche Nähe und Verbindung zu Kant erkennen.

Im Jahr 1921 veröffentlichte Coudenhove-Kalergi im Neuen Geist-Verlag in Leipzig eine gekürzte Fassung seiner Dissertation unter dem Titel Ethik und Hyperethik. Mit dem Begriff Hyperethik versuchte er, eine umfassendere Ethik auf ästhetischer Grundlage zu entwickeln. Sein Wahlspruch lautete, dass „Tugend menschlich und Schönheit göttlich“ sei. In Kants Ansatz erkannte er die Vereinigung der Ästhetik und der Ethik als Lehre vom Schönen in uns. Für ihn war Kants Kategorischer Imperativ nichts anderes als „Naturgesetz der Schönheit“ (ibid., S. 106). Die Harmonie des Guten und Schönen liegt im Geist und in der Natur.

Wie auf dem Gebiet der Philosophie verarbeitete Coudenhove-Kalergi die Maximen Kants in seiner paneuropäischen Tätigkeit praktisch weiter. Kants Friedensphilosophie wurde zum Kern seiner Theorie der Völkerverbindung und der Einigung Europas. Einige Programmpunkte im Aufsatz „Paneuropa. Ein Vorschlag“ scheinen eindeutig unter dem Eindruck der Präliminär- und Definitivartikel aus Kants Schrift Zum ewigen Frieden formuliert worden zu sein.

Überlegungen der beiden „Väter Europas“ zur Schaffung einer friedlichen Weltordnung besitzen einen zeitlosen Wert und sind auch heute noch von unschätzbarer Aktualität. Das Postulat des Weltfriedens ist nicht nur eine leere Idee. Die auf der Friedensidee grundgelegt Weltordnung stellt die Möglichkeit dar, die reale Welt nach den Prinzipien der Vernunft, des Rechts und der Gerechtigkeit zu gestalten. Davon zeugen die Lehren des Königsberger Weltweisen und seines paneuropäischen Nachfolgers.

Prof. Dr. Pavo Barišić, Generalsekretär der Internationalen Paneuropa-Union

Europäischer Brief 196 (DE/EN/FR) (PDF)